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Der Weg bis zur G1/23 “solar cell” – Entscheidung über das Schicksal kommerzieller Polymerprodukte als Stand der Technik

Mit der Zwischenentscheidung vom 27. Juni 2023 in dem Fall T 438/19, sind neue Vorlagefragen vor der Großen Beschwerdekammer anhängig, welche sich mit den Problemen der Reproduzierbarkeitsvorraussetzung an den Stand der Technik befasst. Nachdem dieses Thema einen hohen Stellenwert in der Chemie, insbesondere in der Polymerchemie, besitzt, folgen wir dieser Thematik mit erhöhtem Interesse und haben den bisherigen Verlauf bis zur G1/23 im Folgenden kurz zusammengefasst.

Stand der Technik

Das Europäischen Patent Übereinkommen (EPÜ) und die meisten der anderen Patentübereinkommen in der Welt arbeiten mit dem Prinzip der absoluten Neuheit für die Bestimmung des Stands der Technik für eine Anmeldung. Dieser breitest denkbare Ansatz spiegelt sich im Artikel 54(2) EPÜ wieder:

Den Stand der Technik bildet alles, was vor dem Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung der Öffentlichkeit durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise zugänglich gemacht worden ist. (Hervorhebung hinzugefügt)

Entsprechend ist die einzige “wirkliche“ Einschränkung an geeigneten Stand der Technik, dass er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sein muss.

Während dieses Prinzip auf den ersten Blick relative geradlinig erscheint haben sich doch spezielle Besonderheiten von unterschiedlichen Formen des Stands der Technik, wie z.B. kommerziellen Produkten, nach und nach herausgestellt.

Der Weg bis zur G1/23

So wurde unter anderem von der Großen Beschwerdekammer in Ihren Stellungnahmen zu G2/88 und G6/88 die Frage behandelt,welcher Informationsgehalt von kommerziellen Produkten öffentlich zugänglich ist. Die Richtung, welche in diesen Entscheidungen eingeschlagen wurde, war die, dass alle Informationen, die durch Analyse des Produkts erhalten werden können, Stand der Technik sind und nicht am Produkt analysierbare Eigenschaften, wie z.B. die Verwendung / Wechselwirkung des Produkts, eine Basis für einen weiteren nicht-medizinischen Verwendungsanspruch einer bekannten Verbindung darstellen kann.

Die Frage, ob der Fachmann dabei eine bestimmte Motivation für die Analyse eines kommerziellen Produkts haben muss, wurde in der Folgeentscheidung G1/92 behandelt.

Während die G1/92 der breiten Interpretation von Stand der Technik folgte und bestätigte, dass keine bestimmten Gründe für eine Analyse vorliegen müssen, wurde darüber hinaus zusätzlich eine Reproduzierbarkeitsvorraussetzung eingeführt, obwohl diese Thematik kein Teil der Vorlagefragen war.

G1/92 Vorlagefrage:

Wird die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses der Öffentlichkeit allein schon dadurch zugänglich gemacht, daß das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist, und zwar unabhängig davon, ob es für den Fachmann besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren?

Antwort:

Die chemische Zusammensetzung eines Erzeugnisses gehört zum Stand der Technik, wenn das Erzeugnis selbst der Öffentlichkeit zugänglich ist und vom Fachmann analysiert und reproduziert werden kann, und zwar unabhängig davon, ob es besondere Gründe gibt, die Zusammensetzung zu analysieren. (Hervorhebung hinzugefügt)

Diese Reproduzierbarkeitsvorraussetzung führte zu schwerwiegenden Problemen, vor allem auf dem Gebiet der Polymerchemie, da die Reproduktion, insbesondere die identische Reproduktion von Polymeren ein grundlegendes Problem darstellt.

Eine der weitreichendsten Entscheidungen, die auf die G1/92 folgte war die T 1833/14, in der es um die Reproduzierbarkeit eines kommerziellen Polypropylens ging, welches alle beanspruchten Merkmale erfüllte. In diesem Fall entschied die Beschwerdekammer, dass die Reproduktion des kommerziellen Produkts bezogen auf die beanspruchten Merkmale nicht ausreichend ist und dass das Produkt identisch reproduzierbar sein muss, um Stand der Technik zu werden. Die Kammer führte dazu weiter aus, dass im Fall von Polymeren die Art des Katalysator- und des Reaktionssystems, und die Prozessbedingungen die Eigenschaften des hergestellten Polymers erheblich beeinflussen und dass daher diese Parameter offenbart sein müssen, um das Produkt reproduzierbar zu machen.  

Folglich schließt die T 1833/14 quasi kommerzielle Polymerprodukte vom Stand der Technik aus, da meistens keinerlei Informationen zu Katalysator und Prozessbedingungen offenbart werden.

Durch die Aufnahme in das Buch „Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA“ und dann sogar in die Richtlinien für die Prüfung im Europäischen Patentamt (G-IV 7.2.1), wird diese Entscheidung oft als genereller Einwand gegen jedwedes kommerzielles Polymerprodukt als Stand der Technik erhoben.

Die divergierende Rechtsprechung bezüglich dem nötigen Grad an Detailliertheit der Analyse (z.B. T946/04, T2458/09), Grad an Reproduzierbarkeit (z.B. T1540/21, T1833/14), sowie was (Chemische Zusammensetzung, innere Struktur oder das Produkt selbst) bei „nicht-reproduzierbaren“ Produkten vom Stand der Technik ausgeschlossen ist (z.B. T23/11, T1666/16) führte letztlich zu den Vorlagefragen für die G1/23.

G1/23

Vorlagefragen:

  1. Ist ein Erzeugnis, das vor dem Anmeldetag einer europäischen Patentanmeldung auf den Markt gebracht wurde, schon allein deshalb vom Stand der Technik im Sinne des Artikel 54(2) EPÜ auszuschließen, weil seine Zusammensetzung oder innere Struktur vom Fachmann vor diesem Tag nicht ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
  2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, gehören dann technische Informationen über dieses Erzeugnis, die der Öffentlichkeit vor dem Anmeldetag zugänglich gemacht wurden (z. B. durch Veröffentlichung in einer Fachbroschüre, der Nichtpatent- oder der Patentliteratur), zum Stand der Technik im Sinne des Artikels 54 (2) EPÜ, unabhängig davon, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses vom Fachmann vor diesem Tag ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte?
  3. Falls Frage 1 zu bejahen oder Frage 2 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann zu beurteilen, ob die Zusammensetzung oder innere Struktur des Erzeugnisses im Sinne der Stellungnahme G 1/92 ohne unzumutbaren Aufwand analysiert und reproduziert werden konnte? Ist es insbesondere erforderlich, dass die Zusammensetzung und innere Struktur des Erzeugnisses vollständig analysierbar und identisch reproduzierbar ist?

Eine Analyse der eingereichten Amicus Curiae Briefe gibt bereits einen ersten Einblick in die vorherrschende Meinung, welche sich für eine Abkehr von der strikten Anwendung der G1/92 und von der Reproduzierbarkteitsvorraussetzung auspricht.

11 Parteien sprechen sich dabei gegen den Ausschluss von Produkten vom Stand der Technik allein wegen “Nicht-reproduzierbarkeit” der Zusammensetzung oder inneren Struktur aus (Nein zu Frage 1).

Zwei Parteien argumentieren, dass die G1/92 die Rechtsprechung für mündliche und schriftliche Offenbarungen bereits klare Richtlinien darstellen und das “nicht-reproduzierbare” Produkte/Lehren vom Stand der Technik ausgeschlossen sein sollten (Ja zu Frage 1).

Eine Partei spricht sich für eine Unterscheidung aus, je nachdem ob das kommerzielle Produkt als Stand der Technik für Neuheit oder erfinderische Tätigkeit angesehen werden soll  (Ja zu Frage 1 für Neuheit, Nein zu Frage 1 für erfinderische Tätigkeit).

Des Weiteren argumentieren zwei Parteien, dass die Entscheidung zu G1/23 auf das Gebiet der Chemie und Pharmazie beschränkt werden sollte, da das grundlegende Problem in anderen Fachgebieten nicht vorkommt.

Zusammenfassung und Ausblick

Die neuesten Entwicklungen in Einspruchs- und Beschwerdeverfahren, vor allem im Gebiet der Polymerchemie zeigen deutlich, dass klare Richtlinien bzgl. der Reproduzierbarkeitsvorraussetzung an kommerzielle Produkte benötigt werden.

Abhängig von der Richtung, die die Große Beschwerdekammer einschlägt, könnten kommerzielle Polymerprodukte quasi vom Stand der Technik ausgeschlossen werden oder eine Art Renaissance erfahren.

Wie auch immer, es wird hochinteressant sein, die hoffentlich ausführliche Begründung Ihrer Entscheidung zu analysieren.

Die Beiträge im Maiwald-Blog stellen lediglich einen Überblick zu aktuellen rechtlichen Themen, Gesetzgebungsvorhaben sowie Rechtsprechung dar und dienen der allgemeinen Information und ersetzen keinesfalls eine konkrete Beratung im Einzelfall. Wenn Sie Fragen zu den hier angesprochenen oder anderen Themen und Rechtsgebieten haben, steht Ihnen Ihr persönlicher Ansprechpartner bei Maiwald oder der jeweils im Beitrag genannte Verfasser gerne jederzeit zur Verfügung.

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Autoren

Dr. Gabriel Kiefl

German and European Patent Attorney Trainee

M.Sc. Chemie