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Videokonferenzen am EPA – Sprungbrett ins digitale Zeitalter?

Dr. Eva Ehlich & Angela Zumstein in der Reihe

„In mehreren Studien hat der iranisch-amerikanische Psychologe Albert Mehrabian untersucht, welchem Kanal Menschen im Falle von inkonsistenten Botschaften mehr Vertrauen schenken. Seine wiederholt replizierte Formel, nach der nur zu sieben Prozent dem gesprochenen Wort vertraut wird, aber zu 38 Prozent dem stimmlichen Ausdruck und zu 55 Prozent der Körpersprache, zeigt die Bedeutung der non-verbalen Kommunikationselemente, die in virtuellen Settings vielfach verloren gehen.“ (1)

Bald wird die Große Beschwerdekammer des EPA über eine interessante Frage entscheiden: dürfen Verhandlungen vor dem EPA grundsätzlich auch gegen den Willen der Parteien als Videokonferenz abgehalten werden?

Niemand hätte im Mai 2020 wohl damit gerechnet, dass der Beschwerdefall T 1807/15 zu einer Grundsatzentscheidung führen würde. Eigentlich ging es ja nur um eine Prüfung der Aufrechterhaltung eines Funkfrequenzverstärker-Patents. Solche Fälle sind für das EPA alltäglich.

Doch der Fall stand nur am Anfang einer langen Schlange ähnlicher Fälle. Seit dem Beginn der ersten Corona-Welle im Jahr 2020 mussten etliche mündliche Verhandlungen am EPA verschoben werden. Im Februar 2021 sollte die Verhandlung dann endlich stattfinden. Doch nicht ganz überraschend beantragte der Vertreter der Patentinhaberin mit Sitz in London, die mündliche Verhandlung nochmals zu verschieben. Der Grund? Er könne nicht persönlich nach Deutschland kommen. Die gegenwärtige Corona-Lage und die Reisebeschränkungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich hinderten ihn daran. Auch eine Videokonferenz sei nicht geeignet. Schließlich sei für diesen Fall Simultanübersetzen notwendig. Dies leuchtete auch der einsprechenden Partei ein. Kurz darauf sprach sich auch diese gegen eine Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz aus.

Die Durchführung der mündlichen Verhandlung mittels Videokonferenz war bisher von der Zustimmung der Beteiligten abhängig. Die Statistiken zeigen jedoch, dass davon nur sehr wenig Gebrauch gemacht wurde. Dadurch war der Stapel der nicht abgeschlossenen erstinstanzlichen Verfahren immer weiter angewachsen. Denn die Corona-Beschränkungen führten zur Aussetzung fast aller Verfahren.

Wie man einen „Coronastapel“ abbaut? 360 Entscheidungen pro Monat!

Der schnell wachsende Backlog war und ist für die Amtsführung frustrierend – gerade vor dem Hintergrund der schon erzielten Erfolge und der Verkürzung der erstinstanzlichen Einspruchsverfahren, die in den letzten Jahren vor der Corona-Pandemie erreicht wurde.

Um den jetzigen Backlog bis Ende 2022 wieder abzubauen, müssen etwa 360 Entscheidungen im Monat ergehen. Dies beschreibt der Sachstandsbericht vom November 2020. Am Ende des Berichtes wird als Maßnahme empfohlen, mündliche Verhandlungen mittels Videokonferenz und ohne die Zustimmung der Beteiligten durchzuführen. (2) Dieser Empfehlung ist der Präsident des EPA mit dem Beschluss vom 10. November 2020 auch gefolgt.

Ein holpriger Start

Begeben wir uns zurück auf einen Weg, der im März 2020 seinen Anfang nahm. Zu diesem Zeitpunkt begann mehr oder weniger offiziell die „Corona-Krise“. Die erste Welle rollte an. Menschen trafen sich nicht mehr. Versammlungen wurden abgesagt.

Die Durchführung mündlicher Verhandlungen mit physischer Präsenz war seitdem aus vielerlei Gründen erschwert. Dazu zählen insbesondere Reisebeschränkungen, allgemeine Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen. Dies galt für kleine Betriebe genauso wie für große Institutionen. Während die Beschwerdekammern jedoch immer noch mündliche Verhandlungen mit physischer Präsenz unter strengen Hygienemaßnahmen durchführten, hatte das EPA derartige Verhandlungen bereits bis zum 31. Dezember 2020 und anschließend bis zum 15. September 2021 ausgesetzt.

Anders als das Amt haben die Beschwerdekammern im Laufe des Jahres 2020 mündliche Verhandlungen in unterschiedlichen Formaten abgehalten: Entweder

Im Dezember 2020 ersuchte der Präsident der Beschwerdekammern dennoch den Beschwerdekammerausschuss, einen neuen Artikel 15a in die Verfahrensordnung der Beschwerdekammern aufzunehmen. Dies passt auch zum Beschluss des EPA-Präsidenten. Mit Artikel 15a wird klargestellt, dass die Beschwerdekammern grundsätzlich mündliche Verhandlungen gemäß Artikel 116 EPÜ als Videokonferenz ohne Zustimmung der Beteiligten durchführen können. Der Beschwerdekammerausschuss hat einen entsprechenden Erlass getätigt und der Verwaltungsrat genehmigte den neuen Artikel am 23. März 2021. Diese Maßnahme ist jedoch zeitlich nicht beschränkt und daher nicht nur auf den Zeitraum der Pandemie anwendbar.

Das Virus sagt: „Was schert mich denn das Gesetz?“

Parallel zu den soeben geschilderten Vorgängen am Amt und bei den Beschwerdekammern lief unser anfangs genannter Funkverstärker-Fall weiter. Gerade auch hier ging es um die Grundsatzfrage, ob mündliche Verhandlungen auch gegen den Willen der Parteien per Videokonferenz abgehalten werden dürfen. Bisher war bei mündlichen Verhandlungen vor den Abteilungen oder Beschwerdekammern eben das persönliche Erscheinen gang und gäbe – was angesichts technisch und rechtlich oft komplexer Sachverhalte sinnvoll erscheint. Doch Covid macht auch vor dem EPA nicht Halt. Was scheren ein Virus Gesetzes-Texte?

Die für diesen Fall zuständige Beschwerdekammer stellte nun eine wichtige Frage an die Große Beschwerdekammer. Diese Kammer ist die höchste Instanz für die Interpretation des Europäischen Patentübereinkommens (EPÜ). Die Frage wurde unabhängig von dem neuen Artikel 15a der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern gestellt:

Erlaubt es das EPÜ, d.h. Artikel 116 EPÜ, mündliche Verhandlungen gegen den Willen der Parteien per Videokonferenz durchzuführen?

Sollte die Große Beschwerdekammer zur Erkenntnis gelangen, dass das EPÜ dies nicht erlauben würde, wären nicht nur Artikel 15a der Verfahrensordnung, sondern auch die Maßnahmen des Amtes zur Bekämpfung der Auswirkungen der Pandemie schlicht hinfällig.

Es ist natürlich unglücklich, dass in der derzeitigen, durch die Pandemie aufgeheizten Situation solche Grundsatzfragen entschieden werden. Doch es ist gleichfalls verständlich, dass momentan außergewöhnliche Maßnahmen nötig sind, um einen Rechtspflegestillstand möglichst zu vermeiden. Es schien jedenfalls, als hätten die Beschwerdekammern mit unterschiedlichen Formaten einen guten Mittelweg gefunden, ohne die Beteiligten zu Videokonferenzen zu nötigen. Die Beschwerdekammern hielten mündliche Verhandlungen entweder mit persönlich Anwesenden, mit per Videokonferenz zugeschalteten Verfahrensbeteiligten oder als Hybrid-Veranstaltung ab.

Artikel 15a der Verfahrensordnung ist nun geeignet, die Beteiligten in eine Videokonferenz zu zwingen. Zudem ist er nun auch dauerhaft angelegt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er jenseits der Pandemie auch analog für die erstinstanzlichen Verfahren angewendet wird. Seine Daseinsberechtigung kann er also nicht nur aus der derzeitigen Krisensituation ziehen.

Es stellen sich in diesem Zusammenhang jedoch viele rechtliche Fragen. Ist die Frage der Videokonferenz für die Verwaltungsverfahren am Amt genauso zu beantworten wie für die gerichtsähnlichen Beschwerdeverfahren vor den Beschwerdekammern? Darf es für eine Pandemiesituation Ausnahmeregelungen geben, selbst wenn sie so etwas Grundsätzliches wie das Recht auf eine mündliche Verhandlung betreffen?

Wir halten Sie auf dem Laufenden!

Pro und Kontra – und die Meinung dazwischen

Im Folgenden beleuchten wir in kurzen Stichpunkten die Argumente, die derzeit für und gegen eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz kursieren. Zudem stellen wir auch kurz „Mischformen“ mündlicher Verhandlungen vor. Alle Argumente sind beispielhaft aus der Meinungswelt gegriffen und bilden ein offenes – keinesfalls abschließendes – Bild:

Pro

  • Technische Probleme, wie Simultandolmetschen und die gleichzeitige Teilnahme mehrerer Parteien, seien zwischenzeitlich durch Videokonferenz-Plattformen gelöst (3)
  • „Durch die Möglichkeit, das eigene Mikrofon abzuschalten, können Beteiligte einer Partei auch während der mündlichen Verhandlung miteinander diskutieren“ (3)
  • Auch komplexe Sachverhalte können in einer Videokonferenz demonstriert werden, z.B. durch das Teilen des Bildschirms eines Teilnehmers.

  • Verfahren nach dem Europäischen Patentübereinkommen sind in erster Linie als schriftliche Verfahren konzipiert. Demnach stelle Art. 116 EPÜ sicher, dass die Parteien auch die Möglichkeit einer mündlichen Darstellung des Falles erhalten. Daher sei jedes Format der mündlichen Verhandlung akzeptabel, das dieses Ziel angemessen erreichen lässt. (4)

  • Die Rechtsprechung im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention sei ein lebendiges Instrument […], das im Lichte der heutigen Bedingungen interpretiert werden muss. (4)
  • Mündliche Verhandlungen können nicht einfach auf unbestimmte Zeit verschoben werden. „Das gebieten die Rechtssicherheitsinteressen von Verfahrensbeteiligten wie von Dritten“ (5)
  • Es bestehe ein „Interesse der Parteien, möglicher Wettbewerber und der Öffentlichkeit, dass die Klärung der Schutzrechtslage nicht über Gebühr verzögert wird.“ (6)
  • Die Dauer der Verfahren könne in Grenzen gehalten werden. (3)

  • Die Pandemie hat mündliche Präsenzverhandlungen erschwert. Aber durch Videokonferenzen konnten bereits viele Fälle ohne Infektionsrisiko abgeschlossen werden.

  • Durch den Wegfall der Anreise zum Verhandlungsort werden Reisekosten und Zeit gespart.
  • Es sei „für die Öffentlichkeit einfacher, Verhandlungen zu verfolgen“. Das sei ein großer Vorteil. (3)
  • Der CO2- Fußabdruck wird reduziert. (6)

  • Ein Videoverfahren verstärke zudem jene „Transparenz des Beschwerdekammersystems des EPA und trägt zu vertieftem Wissen über das europäische Patentsystem und erhöhter Akzeptanz der Entscheidungen bei internationalen Anmeldern – und damit letztendlich auch zu verbesserter Qualität von neuen Patentanmeldungen“ – bei. (6)
  • Videokonferenzen würden die Zugänglichkeit erheblich verbessern und bessere Ergebnisse liefern […], schneller und zu geringeren Kosten für alle. (7, Richard Mair, CIPA-Präsident)
  • Es sinke „die Schwelle für die Teilnahme von mehreren Vertretern oder Mitgliedern der Parteien an der Verhandlung […], wodurch die Transparenz der Verfahren erhöht werden kann und von den Einspruchsabteilungen getroffene Entscheidungen durch die Parteien besser eingeordnet werden können.“ (3)

Zusammenfassung

Viele Punkte sind gar nicht einmal auf die durch die Pandemie verursachte Krisensituation zurückzuführen. Nein, gerade die Zeit-, CO2- und Kostenersparnis sowie die technischen Möglichkeiten und die vereinfachte Teilnahme stechen hervor.

Contra

  • Das Format einer Videokonferenz sei mit dem in Artikel 116 Abs. 1 EPÜ vorgesehenen Konzept der mündlichen Verhandlung nicht vereinbar. (4)
  • In Art. 116 EPÜ sei ausdrücklich von einer mündlichen Verhandlung die Rede. „Die Möglichkeit der Durchführung per Videokonferenz ist im Gesetz selbst nicht vorgesehen“ (8)
  • Der Terminus mündliche Verhandlung vor der jeweiligen Abteilung in Art. 116 EPÜ beziehe sich auch auf den Ort, an dem die mündliche Verhandlung abgehalten werden muss. (8)
  • „Eine derart extensive Auslegung der Terminologie «mündliche Verhandlung»“ entspreche „weder dem Sinn und Zweck des Gesetzes oder der bewährten Rechtspraxis noch kann diese durch die gegenwärtige Pandemie legitimiert werden.“ (8)

  • Videokonferenzen könnten gegen das in Art. 21 EPÜ verankerte Kollegialsystem verstoßen. „Die Erfahrung mit VICOs in erster Instanz zeigt, dass die Verhandlung sich häufig auf eine Diskussion mit dem Berichterstatter beschränkt, der sich am eingehendsten mit der Sache befasst hat.“ (9) Zweitinstanzlich sollten jedoch alle Mitglieder die gleiche Verantwortung für die zu treffende Entscheidung tragen – was eine Auseinandersetzung im Dialog miteinander und den Beteiligten voraussetze. (6)

  • Präsenzverhandlungen sind eine langjährige Praxis.
  • Der Beschluss des EPA-Präsidenten könne „unter Umständen zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 113 EPÜ bzw. Art. 6 Ziff. 1 EMRK“ führen, wenn die mündliche Verhandlung gegen den Willen des Patentanmelders per Videokonferenz durchgeführt werde. (8)

  • Eine instabile/unterbrochene Internetverbindung oder fehlende Datensicherheit könnten zum Problem werden. Technische Probleme könnten aber zu einer Waffenungleichheit führen. (8)
  • Durch den gerichteten Blick der Kamera könne es in manchen Situationen dazu kommen, den Sprecher schwerer zuzuordnen oder Interaktionen der Mitglieder der Einspruchsabteilung zu verfolgen. (3)
  • Es gebe zeitliche Verzögerungen in der Simultanübersetzung. (10)

  • Man müsse keine Videokonferenzen abhalten. Es stünden genügend alternative Maßnahmen zur Reduzierung der Ansteckungsgefahr zur Verfügung. (8)

  • Es bestehe das Risiko, dass der Fall aufgrund von Kommunikationsbarrieren nicht adäquat behandelt wird. (10)
  • Die Relevanz einer mündlichen Verhandlung werde im Fall von Videokonferenzen geringer. Dadurch werde das gesamte Verfahren in ein eher „schriftliches Verfahren“ umgewandelt. (10)

  • Auch psychologische Aspekte wie nicht sichtbare Gesten oder Mimik können Einfluss auf das Ergebnis der Verhandlung haben.
  • Die Aufmerksamkeitsspanne und das Aufnahmevermögen könnten geringer ausfallen. (11)
  • Durch das zwischengeschaltete Medium komme es zu einer Distanzierung. Dadurch sei zu befürchten, dass sich die Einspruchsabteilung nicht mehr so offen gegenüber den Argumenten der Beteiligten verhält und somit lieber auf Ihrer vorläufigen schriftlichen Meinung beharrt. (3)
  • Die Atmosphäre oder Nuancen der Argumentation können verloren gehen. Durch den fehlenden direkten Blickkontakt kann das Gegenüber schlechter eingeschätzt werden, was zu anderen Verfahrensverläufen führen kann.
  • Eine bereits bestehende vorläufige Meinung der Einspruchsabteilung könnte in Videokonferenzen schwerer zu drehen sein. (11)
  • Durch die Distanzierung könne es dazu kommen, dass Gesprächsregeln nicht eingehalten werden. (3)
  • Ein Richter könnte sich in einem Gerichtssaal für seine Entscheidung verantwortlicher fühlen. (6).

Zusammenfassung

Am wichtigsten wiegen wohl die psychologischen Aspekte. Eine mündliche Verhandlung steht am Ende eines langen Verfahrens und ist das finale Element vor der Entscheidung. Es besteht die Befürchtung, dass eine durch technische Einschränkungen bedingte schwächere Präsentation der Fakten und Argumente die Entscheidung unglücklich beeinflussen könnte. Eine Videokonferenz wird gegenüber einer Verhandlung mit physischer Präsenz nicht als gleichwertig empfunden.

Meinungen dazwischen

  • Für viele sind auch „hybride Verhandlungen“ denkbar, in denen unterschiedliche Teile des Prozesses in unterschiedlichen Formaten abgehalten werden können.

  • Vor allem die technischen Erfahrungen der Teilnehmer mit Videokonferenzen variieren stark. Viele wollen deswegen nicht zu Videokonferenzen gezwungen werden.
  • Aber vielerorts heißt es eben auch: Wenn alle beteiligten Parteien damit einverstanden sind, ein Verfahren per Videokonferenz abzuhalten, ist das für mich in Ordnung (10)

Weitere Meinungen

Sonstige Punkte finden Sie z.B. in der EPLIT-Umfrage zur mündlichen Verhandlung per Videokonferenz (10) oder im Blog von Wolters Kluwer (7).

Bilden Sie sich einfach Ihre eigene Meinung!

Psychologische Gesichtspunkte bei Videokonferenzen – Bitte nicht einschlafen! 😉

Wie unser Zitat am Anfang unseres Artikels bereits zeigt, ist der psychologische Faktor bei Videokonferenzen nicht zu unterschätzen. Was geht bei einer Videokonferenz verloren? Ändert sich das Verhalten eines Zuschauers oder Sprechers im Vergleich zu einer Präsenz-Veranstaltung? Und besteht die Gefahr des frühzeitigen Ermüdens bei Videokonferenzen? Interessante Experteninterviews & -artikel zu diesem Thema finden Sie unter folgenden Links:

Interview mit Christian Korunka und Katrin Schoenenberg (Zeit.de)

Interview mit Johanna Schäwel und Alexander Raake (Welt.de)

Artikel über Grenzen der Online-Kommunikation (Sebastian Kunert)

Zusammenfassung

Die Beteiligten sollten sich dessen bewusst sein: Die Kommunikation mittels Videokonferenz erfordert andere Kommunikationsformen. Es ist nicht auszuschließen, dass unsere Gesellschaft Kommunikationsmechanismen entwickeln wird, die eine gleichwertige Konversation über Video ermöglichen werden. Das wird jedoch erst die Zeit zeigen, derzeit ist dies noch nicht der Fall. Die Technik steht hier sicher erst noch am Anfang, genau wie die Menschen, die sie bedienen – auch wenn die Pandemie viele Entwicklungen beschleunigt hat.

Mündliche Verhandlungen in Patentstreitigkeiten vor dem EPA können äußerst komplex sein – nicht nur technisch und rechtlich, sondern auch sprachlich. Die Kommunikation weiter zu erschweren und zu verkomplizieren, scheint vor diesem Hintergrund recht gewagt. Ansonsten enden wir u.U. wie Bill Murray nicht nur „lost in translation“ sondern auch „in lost communication“. Bei aller gewonnenen Transparenz und CO2- Ersparnis würde das dem Patentsystem nicht guttun.

Ist die geplante Gesetzesänderung EPÜ-konform?

Hier gehen die Meinungen auseinander. Artikel 116 EPÜ stellt im Europäischen Patentübereinkommen die Grundlage für das Recht auf eine mündliche Verhandlung dar.

Zwei Entscheidungen. Zwei Meinungen.

Die bereits zitierte Beschwerdekammer kommt in T1807/15 zu folgendem Schluss:

Nach Ansicht der Kammer bedeutet die Tatsache, dass das EPÜ das Format von mündlichen Verhandlungen nicht ausdrücklich definiert hat, nicht notwendigerweise, dass der Begriff ‚mündliche Verhandlung‘ in Artikel 116 EPÜ so weit ausgelegt werden sollte, dass er auch Videokonferenzen umfasst.

Zur genau gegenteiligen Meinung kommt eine andere Beschwerdekammer in T2320/16:

Wie oben ausgeführt, ist die Kammer der Ansicht, dass eine mündliche Verhandlung per Videokonferenz sowohl mit der wörtlichen Auslegung als auch mit der gesetzgeberischen Zielvorstellung, die Artikel 116 EPÜ 1973 und 2000 zugrunde liegt, vereinbar ist.

Die Große Beschwerdekammer wird sich genau damit befassen müssen.

Das Recht auf eine mündliche Verhandlung nach Art. 116(1) EPÜ ist ein grundlegendes Verfahrensrecht der Parteien. Aber nicht nur das EPÜ selbst, sondern auch die Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), deren Vertragsstaaten sogar über das Territorium des EPÜ hinausreichen, sichert mit dem Gebot des fairen Verfahrens in Art. 6 Abs. 1 dieses Verfahrensrecht ab. Eine Änderung, wie sie mit Artikel 15a der Beschwerdekammerverordnung vorgesehen ist, sollte, sofern diese überhaupt möglich ist, einer diplomatischen Konferenz vorbehalten sein.

Der Präsident der Beschwerdekammern hat hierzu seine Meinung schon geäußert, denn der Vorschlag zur Änderung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern stammt von ihm. Ob er nun unbefangen als Vorsitzender der Großen Beschwerdekammer über diese Frage entscheiden kann, bleibt abzuwarten. Der Verwaltungsrat hat die Änderung gerade beschlossen. In der Mitteilung vom 24. März 2021 informiert der Präsident des Amtes: Trotz Anhängigkeit vor der Großen Beschwerdekammer werden die Verfahren vor dem Amt weiter in Form von Videokonferenzen, auch gegen den Willen der Parteien und gegen die übliche Praxis das Verfahren auszusetzen, durchgeführt. Die Verhandlung in der Sache vor der Großen Beschwerdekammer findet am 28. Mai 2021 in Form einer Videokonferenz statt. Es drängt sich ein wenig der Eindruck auf, die Entscheidung sei schon gefallen.

In der Sache kann man hier sicher unterschiedlicher Meinung sein. Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Und es bestreitet keiner, dass Videokonferenzen eine Bereicherung sind, zur Effizienz des Justizsystems beitragen sowie momentan den Stillstand in der Rechtspflege mildern. Ein Zwang zur Videokonferenz über die Pandemie hinaus scheint aber derzeit durch nichts gerechtfertigt. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass die Pandemie das Geschehen jetzt weit über ihre Zeit hinaus unumkehrbar diktiert. Zurzeit wird die dauerhafte Neustrukturierung der mündlichen Verhandlung angedacht. Sollte man nicht die pandemiebedingten Maßnahmen davon trennen?

Wie denken Sie darüber? Wir freuen uns über Ihre Meinung bei LinkedIn.

Quellen:

1. Grenzen der Online-Kommunikation, Sebastian Kunert, https://www.coaching-magazin.de/beruf-coach/grenzen-der-online-kommunikation, 2020, abgerufen am 12.04.21

2. Opposition oral proceedings by videoconference in the context of COVID-19, Europäisches Patentamt, http://documents.epo.org/projects/babylon/eponet.nsf/0/BF708885F3F0AA38C125861C0055BC88/ $File/opposition_oral_proceedings_by_videoconference_in_the_context_of_covid-19_-_progress_report_en.pdf, November 2020, abgerufen am 07.04.21

3. Business as usual – jedenfalls fast, Philipp Nordmeyer, https://www.deutscheranwaltspiegel.de/intellectualproperty/covid-19/business-as-usual-jedenfalls-fast-21962/, 20.11.20, abgerufen am 25.03.21

4. T 1807/15 (Oral proceedings in the form of a videoconference) of 12.3.2021, European Patent Office, https://www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/recent/t151807eu1.html, 12.03.21, abgerufen am 25.03.21

5. User consultation on an amendment to the Rules of Procedure of the Boards of Appeal (RPBA 2020) – insertion of new Article 15a (oral proceedings by videoconference), Hansjörg Kley, https://www.kley.ch/hansjoerg/patrecht/br_epa_2020Z11EP_2020-11-23.pdf, 23.11.20, abgerufen am 25.03.21

6. Nutzerbefragung zur Änderung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern durch Einfügung eines neuen Artikel 15a, „Johannes Lang, Tobias Kaufmann“, https://www.bardehle.com/de/ip-news-wissen/kanzlei-news/news-detail/nutzerbefragung-zur-aenderung-der-verfahrensordnung-der-beschwerdekammern-durch-einfuegung-eines-neuen-artikel-15a-muendliche-verhandlung-als-videokonferenz, 01.12.20, abgerufen am 25.03.21

7. Response to EPO consultation: Don’t impose oral proceedings by videoconference, Kluwer Patent blogger, http://patentblog.kluweriplaw.com/2020/12/02/response-to-epo-consultation-dont-impose-oral-proceedings-by-videoconference/, 02.12.20, abgerufen am 25.03.21

8. Von Pandemien und mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz, Claudia Erbsmehl, https://www.thomannfischer.ch/de/ueber-uns/aktuell.html, 21.12.20, abgerufen am 25.03.21

9. Stellungnahme zu mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz im EPA, Patentanwaltskammer, https://www.patentanwalt.de/files/pak/pdf/kammer/stellungnahmen/4_2020_Stellungnahme_1.pdf, 15.07.2020, abgerufen am 07.04.21

10. Survey on Oral Proceedings by videoconference, EPLIT, http://www.eplit.eu/wp-content/uploads/2020/11/EPLIT-Survey-on-Oral-Proceedings-by-videoconference-20201123.pdf, 20.12.20, abgerufen am 25.03.21

11. EPA-Beschluss zu mündlichen Verhandlungen per Videokonferenz, „Dr. Arwed Burrichter, Mathias Karlhuber, Dr. Natalie Kirchhofer“, https://www.cohausz-florack.de/blog/artikel/epa-beschluss-zu-muendlichen-verhandlungen-per-videokonferenz/, 12.11.20, abgerufen am 25.03.21